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Gott, wo warst du?

LeMonde, Seite 3 / 3. Februar 1968

Von unserem Indochina-Korrespondenten Pierre Matinee

Saigon. Es ist nicht mehr zu übersehen. Der letzte Funke, der die Menschen noch an einen Gott glauben ließ, dürfte der Welt endgültig abhanden gekommen sein. Seit die Bevölkerungen in den USA und im Rest der Welt tagtäglich die Kämpfe in Vietnam am Fernsehen verfolgen, ist der Kurswert Gottes an der Weltbörse auf dem Nullpunkt angekommen.

„Als gläubiger Mensch bin ich nach Vietnam gekommen, als gottlos für alle Ewigkeit werde ich dieses Land verlassen“ so der Kollege einer kanadischen Nachrichtenagentur. Mit ihm und vielen anderen stehe ich in der Lobby des Majestic-Hotels in Saigon und kämpfe mit der Übelkeit. Abgebrühten Kameramännern und Fotografen, erfahrenen Radio-, Zeitungs- und Fernsehkorrespondenten aus aller Welt geht es ähnlich.

Soeben wurden wir Zeuge, wie der südvietnamesische Polizeichef einen jungen Vietcong standrechtlich hinrichtete. Mitten in Saigon, direkt vor unser aller Augen, vor den laufenden Kameras und klickenden Fotoapparaten der Weltöffentlichkeit, schoss er dem Verdächtigen auf offener Straße einfach in den Kopf.

Sind wir jetzt endlich im Alltags-Krieg angekommen? Dort wo das Töten und Massakrieren so normal ist, wie das Wechseln einer Küchenrolle? Wo das Zerstören ganzer Städte wie das Ergebnis eines Fußballspiels analysiert wird? Wo verbrannte Wälder und leidende Frauen und Kinder wie langweilige Kultursendungen von abgestumpften Zuschauern einfach weggeschaltet werden?

Nein. Was wir heute erlebten wird seinen Weg um die Welt antreten und noch in Jahrzehnten ein Mahnmal sein. Es wird in jeden Winkel kriechen, von den Luxusvierteln in Los Angeles über die Fischerdörfer auf Kreta bis in die Favellas von Rio. Und dass dies passiert, dafür lieber Gott, brauchen wir dich jetzt auch nicht mehr. Bleib also ruhig dort, wo du immer warst: In der Nichtexistenz. Von wo aus du nichts, aber auch gar nichts getan hast. Hunderte, nein Tausende von Journalisten dokumentieren ab sofort Tag für Tag eindrucksvoll deine Abwesenheit.

Filmisch und fotografisch festgehalten wissen alle Menschen jetzt von Verletzung, Tod und Zerstörung anstelle von schnellem, strahlendem Sieg mit wenig Opfern und entspannt lachenden Soldaten. Jetzt wird endlich klar, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sein wird. Nicht vom Vietcong aber auch niemals von den USA. Die Gräuel des Krieges und damit das Böse sind noch immer die stärkste Kraft auf Erden. So wie seit Tausenden von Jahren schon…

Aus: Merits Geschichten / http://www.agentur-lesenundhoeren.de/ruediger-lehmann.html


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Ein kleines Bild


 

Merits Geschichten / 1924

Mit vier Jahren wurde Raymonde zur Waise, nachdem ihre Eltern mit ihrer Tante Madeleine bei einem Schiffsunglück im indischen Ozean ertrunken waren. Aufgrund eines starken Keuchhustens war sie im letzten Moment in der Obhut des Kindermädchens geblieben und damit dem Unglück entgangen. Die folgenden Jahre ihrer Kindheit sollte sie bei ihrer Tante Minou verbringen, einer kleinen stillen Frau, die Leon Bartez, dem katholischen Pfarrer der Jesusgemeinde von Sanary, den Haushalt führte. Dieser hatte rasch und ohne jeglichen offiziellen Auftrag die väterliche Erziehung Raymondes übernommen.

„Was kann einem kleinen Mädchen besseres passieren, als bei einem Diener Gottes aufzuwachsen?“ erklärte er gerne anderen seine Art der Erziehung, die überwiegend aus harter Disziplin, Gehorsam und Verzicht bestand. Ihrer Tante Minou, die von Anfang an Angst davor hatte, ein kleines Mädchen „in dieser schlimmen Zeit“, wie sie es ausdrückte, erziehen zu müssen, konnte das nur recht sein.

An den Sonntagen half Raymonde dem Pfarrer dabei, die Kirche für den Gottesdienst herzurichten. Dabei verstand Bartez keinen Spaß, denn alles was er einmal erklärte, musste für alle Zeiten verstanden worden sein. Das fiel Raymonde bei den vielen unterschiedlichen Gewändern, Scherpen und Hüten, den Kerzen, Schalen und Pokalen alles andere als leicht. Und so kam es, dass fast jeder ihrer Sonntage mit auswendig lernen, Aufschreiben von Gebeten und Gelübden sowie mit stundenlangem Schweigen ausgefüllt war. Gingen die anderen Kinder an Nachmittag an den Strand, saß Raymonde meist wie gefangen im kleinen Pfarrhaus.

Trotzdem übte die kirchliche Welt eine Faszination auf sie aus. Sie spürte, dass etwas Unsterbliches sie umgab. Etwas, das stärker war als vieles sonst auf Erden. Das sich lohnte zu hegen und zu pflegen, zu befragen und zu beachten. Je größer das Schlimme war, das sie im Leben erleiden musste, desto kräftiger und siegreicher würde das werden, was irgendwann danach kam, predigte der Pfarrer in pedantischer Regelmäßigkeit. Auch wenn Ihr Leben insgesamt keinen erfüllten Verlauf nehmen sollte, waren es dennoch bis zum bitteren Schluss genau diese bei Bartez gelernten Werte, die sie immer wieder aufrichteten. Ganz gleich welchen Mythologien, geistigen Zielen und weltlichen Verfehlungen sie sich auch zuwendete,

An einem Märztag des Jahres 1924 fand ein kleines gerahmtes Bild ihre besondere Aufmerksamkeit. Es hing direkt neben dem Beichtstuhl und zeigte eine charismatische schwarze Frau mit strahlenden Augen und schwarzen Haaren, die große goldene Kreolinen an den Ohren trug und so eigentümlich lächelte, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.

„Wer ist das?“ fragte sie Bartez.

„Das ist eine Frau, die einmal zur Beichte hier war“, antwortete er.

„Wer war sie?“

„Sie sagte, dass sie aus Amerika komme und nach jemandem schauen wolle.“

„Nach wem?“

„Das hat sie nicht gesagt.“

„Was passierte mit ihr?“

„Na ja, nach ein paar Tagen kam sie zurück. Sie bedankte sich zuerst bei der heiligen Jungfrau Maria mit einem Gebet und gab mir dann ein kleines braunes Lederkuvert, zusammen mit diesem Bild hier. Das Kuvert sollte ich gut aufheben‚ im heiligen unverletzbaren Raum der Kirche, wie sie es nannte. Das Bild bat sie mich hier aufzuhängen, da es der Person, die sie offenbar hier gefunden hatte, direkt und ohne Umwege helfen würde.“

Raymonde sah, während der Pfarrer sprach, wie gebannt auf das Bild. Es war ihr sonderbar vertraut vorgekommen, so als würde sie diese Person schon lange kennen.

„Und wo ist das Lederkuvert jetzt?“ fragte sie.

„Warum interessiert dich das eigentlich?“ fragte Bartez nun leicht gereizt, da ihm die seltsame Faszination, die das Bild auf das Mädchen ausübte, plötzlich missfiel.

„Nur so“, sagte Raymonde. „Es ist ja schon irgendwie seltsam, oder?“

Auch der Priester schaute jetzt länger auf das Bild.

„Da hast du schon recht, Raymonde, aber Gottes Wege sind nun einmal von Zeit zu Zeit seltsam. Auf den ersten Blick zumindest, denn wenn du sie irgendwann verstehst, wird dir schnell bewusst, wie sinnvoll und richtig sie in Wirklichkeit doch sind. Doch nun geh wieder an die Arbeit, das hat dich alles gar nicht zu interessieren.“

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Wahrheiten des Krieges

Merits Geschichten /1964. Pierre Matinees erster Aufenthalt in Vietnam

…die Landebahn bestand aus Wellblech und alle die in der Maschine saßen, wurden beim Aufsetzen trotz ihrer Gurte heftig hin und her geworfen. Die Hitze war unerträglich. Unrasierte Gesichter auf denen Schweißperlen standen, schauten angestrengt auf den von Metallstreben und Kabeln überzogenen Boden. Nur die beiden GIs, die Pierre gegenüber saßen, grinsten. „Es ist halt keine Piste von uns,” sagte einer in breitem texanisch. „Stammt noch von den Franzosen.“ Beide brachen in lautes Lachen aus. Sie wussten wohl, woher er kam und Pierre überlegte, etwas darauf zu sagen, ließ es jedoch sein. Es war sein erster Aufenthalt in Vietnam, man schrieb das Jahr 1964 und er kannte nichts und niemanden, da waren Feinde gleich am Anfang kein guter Einstieg…

 

…Carlos Perez, der Fotograf, starrte während des gesamten Fluges hinunter auf die grüne, von kleinen blauen Wasserstreifen durchzogene Waldfläche. Er war kein Unbekannter mehr, hatte bereits die eine oder andere Auszeichnung bekommen und Bilder in renommierten Zeitschriften, wie Time / Life und National Geographics veröffentlicht. Bei LeMonde war Henry LaRoche Pierres Mentor gewesen. Jener berühmte Reporter, der mit Hemingway reiste und im Quartier Latin mit ihm feierte, als die Deutschen endlich aus Paris verschwunden waren. Der im Korea Krieg die berühmten „Tagesberichte eines aufrichtigen Menschen“ verfasst hatte und dafür von Literaten gelobt, aber von öffentlicher Seite zerrissen wurde. Der wegen antiamerikanischer Tendenzen am Pranger stand, aber wegen seiner Wahrheit viel Zustimmung erfuhr. Und worum ging es hier? Wieder um Wahrheit? Gab es die in diesem schon so lange andauernden Konflikt überhaupt noch? Von Seiten der Franzosen jedenfalls war niemand mehr in der Lage, etwas mit dem Wort „Wahrheit“ zu unterschreiben. Würden vielleicht die Amerikaner, die hier jetzt verstärkt ihre Muskeln spielen ließen, etwas in dieser Richtung tun können? Es sah irgendwie nicht danach aus…

Pierre Matinee war mit einer eigenen Auffassung seiner künftigen Arbeit in Sachen Wahrheit nach Vietnam gekommen. Er wußte, Journalistenpreise gab es nicht für Reportagen aus der Lagerküche oder für Interviews mit verletzt zurück gekehrten Soldaten. Es wurden auch keine Bilder prämiert, die im Vordergrund die Rückseiten von schützenden Marines zeigten. Die wurden nicht mal veröffentlicht. Und wenn es irgendwo auf der Welt noch Ehrgeiz auf Leben und Tod gab, dann dort, wo der Krieg in seiner ganzen Grausamkeit eingefangen werden konnte. Schonungslos und hautnah, um ihn dann so frisch wie möglich auf die Tische der Menschen zu bringen, deren Alltagskampf sich schlimmstenfalls um einen Platz in der U-Bahn oder eine bessere Position in der Bürohierarchie drehte…

Kriegsberichterstatter sind unbewaffnet. Auch wenn es immer wieder Geschichten um Reporter gibt, die in ausweglosen Situationen eine Waffe in die Hände bekamen und entscheidende Rollen bei der Rettung ihrer eigenen Person und der sie umgebenden Soldaten spielten. Pierre hatte in Südfrankreich seinen Militärdienst abgeleistet und sehr darauf geachtet, eine solide Ausbildung zu erhalten. In Kriegen der neueren Zeit waren es die Reporter, die bei Kampfeinsätzen als letzte in Jeeps, auf LKW oder in Hubschrauber sprangen. Vom Boden aus filmten sie meist so lange es ging das Boarding der Verletzten mit hysterisch gestikulierenden und zum Einstieg auffordernden Soldaten, während feindliche Geschosse in ihrer unmittelbaren Nähe einschlugen…

Dorthin wo Pierre und Carlos jetzt auf dem Weg waren, würde kein amerikanischer Hubschrauber kommen, in den man im letzten Moment einsteigen konnte. Auch keine Kollegen von den internationalen Fernsehteams und keine Marines. Ausgestattet mit der Akkreditierung einer schwedischen Nachrichtenagentur würden sie in wenigen Stunden die Grenze zwischen Süd- und Nordvietnam überqueren. Im Schutz der Dunkelheit und ganz ohne Wissen der südvietnamesischen und der US-Behörden…

www.agentur-lesenundhoeren.de

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Merits Geschichten / Rosalie Marigeaux, die Tochter des Vietnamreporters Pierre Matinee, erinnert sich:

wir wohnten mitten im Zentrum, unweit des Place d’Italie. An meinem sechsten Geburtstag saßen wir ein paar Straßen weiter bei meinem Lieblings-McDonalds, als ich meinen Vater in dem Fernsehgerät erkannte, das in der Ecke des Restaurants stand. Umgeben von bewaffneten Beduinen erzählte er etwas, was ich heute vergessen habe. Ich hörte auch gar nicht auf das, was er sagte, sondern sah nur den Mann mit den halblangen blonden Haaren, den langen Koteletten und den stahlblauen Augen, der in ein Mikrofon sprach.

Mein Papa“ rief ich laut und sprang auf. Meine Mutter und Jacques bemerkten ihn jetzt ebenfalls, doch in diesem Moment war der Beitrag auch schon wieder zu ende. Aufgeregt sah ich meine Mutter an.

“Wow, und das an meinem Geburtstag.“

Es schien ihr nicht zu gefallen, dass alle Leute zu uns herüber sahen und sie gab mir ein Zeichen, mich wieder hinzusetzen.

Ja, jetzt hast du ihn gesehen“, sagte sie. „Das ist ein alter Film, da warst du noch gar nicht auf der Welt.“

Auch am Nebentisch wurde Geburtstag gefeiert. Das Kind mit der Krone hatte offenbar mehrere Kinder eingeladen und auf dem Tisch herrschte ein Kunterbunt an Schachteln, Tüten, Bechern und Spielzeugen. Alle kauten zufrieden und schoben sich mit fettigen Fingern Paniertes und Gegrilltes in den Mund. Eine freundliche Angestellte brachte Eis und Kuchen und kündigte geheimnisvoll den Clown an. Auch der Vater des Geburtstagskindes war bester Laune, scherzte und verteilte Grimassen schneidend die bunten süßen Sachen.

Jacques sprach ernst mit meiner Mutter. Über Dinge, die ich nicht verstand wie Israel, Palästina, Terror und Leid, während ich Pommes kauend zum Nachbartisch schaute. Nur zu gerne hätte ich dort gesessen, Spaß gehabt und im Arm meines Vaters gelegen, der mir so über den Hinterkopf strich, wie der Mann es jetzt bei seinem Sohn tat. Bei mir war nicht mal zu erkennen, dass ich Geburtstag hatte. Keine Krone, keine anderen Kinder, kein Clown, nichts. Außer zwei genervten Erwachsenen und einem Vater, der Tausende Kilometer weit weg sein Leben mit Sultanen und reitenden Kriegern verbrachte.

Ich wünsche ich mir bis heute, es wäre anders gewesen. Zwischen ihm und meiner Mutter hätte es ja auch die große Liebe sein können. Ein wichtiger Wendepunkt in ihrer beider Leben zum Beispiel. Es hätte ein Tag sein können, an dem mein Vater sich zur Ruhe setzte, um jeden Abend bei uns zu sein. Bei mir zu sein. Vielleicht noch als Zeitungsreporter, der über die Probleme unserer großen Stadt schreiben würde, die es wahrlich genug gab und gibt. Ich habe mich oft gefragt, warum er zu Lebzeiten lieber über verletzte, traurige Kinder in Vietnam oder Afghanistan berichtete, wo es doch hier mitten in Paris so viel Armut gab. Und außerdem hätte er, wenn alles so gekommen wäre, noch am Leben sein können…

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Geheimnisvolle Faccetten

Merits Geschichten / Roman von Rüdiger Lehmann

Die Tochter eines berühmten Vietnamreporters erfährt 2006, dass Ihr Vater nicht 1987, kurz vor ihrer Geburt ermordet wurde, sondern bis 2003 unter an­derem Namen in den USA gelebt hat. Sein letzter Wunsch: Sie soll seine Le­bensgeschichte schreiben. Während sie Unmengen von Bildern und Doku­menten sortiert, formt sich das Bild eines schillernden und traumatisierten Menschen, dessen Mutter gegen Ende ihres Lebens eine schizophrene zwei­te Identität als Indianerin lebte.

Nachdem die erste Frau des Reporters, eine Drehbuchautorin, 1975 nach Abschluss eines Films über die Cherokee India­ner psychisch erkrankt und stirbt, verschwindet deren gemeinsame vierjährige Tochter spurlos. Für den Reporter beginnt eine haltlose Zeit, die ihn zunächst in ein laotisches Kloster führt und dann zunehmend in mystische indianische Traumwelten hineinzieht.

Mit den Aufzeichnungen vor und nach seinem ver­meintlichen Tod erschließt sich ein Leben mit geheimnisvollen Facetten, das viele Fragen aufwirft. Was hat es mit den sieben Seelen des Indianerhäupt­lings auf sich? Wer steckt hinter dem Projekt „Dimensionale Traumreisen“? Und wer war jene geheimnisvolle schwarze Frau, die ihm über Jahre Ge­schichten schrieb, in denen die weibliche Hauptperson immer genau so alt ist, wie seine verschwundene Tochter?

In einer Klinik erfährt die Biografin die Wahrheit über ein Leben, in dem Wahn und Wirklichkeit eng beieinander la­gen: sowohl der Indianerhäuptling als auch die Geschichten der schwarzen Frau und seine angeblichen Traumreisen, so sagt man ihr, seien der ererbten Schizophrenie ihres Vaters entsprungen. Doch noch bevor sie ihre Heimreise antritt, erkennt sie, dass nichts trügerischer sein kann als die Wahrheit…

mehr unter: www.agentur-lesenundhoeren.de

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