Gott, wo warst du?
16. April 2011 von r.lehmann
LeMonde, Seite 3 / 3. Februar 1968
Von unserem Indochina-Korrespondenten Pierre Matinee
Saigon. Es ist nicht mehr zu übersehen. Der letzte Funke, der die Menschen noch an einen Gott glauben ließ, dürfte der Welt endgültig abhanden gekommen sein. Seit die Bevölkerungen in den USA und im Rest der Welt tagtäglich die Kämpfe in Vietnam am Fernsehen verfolgen, ist der Kurswert Gottes an der Weltbörse auf dem Nullpunkt angekommen.
„Als gläubiger Mensch bin ich nach Vietnam gekommen, als gottlos für alle Ewigkeit werde ich dieses Land verlassen“ so der Kollege einer kanadischen Nachrichtenagentur. Mit ihm und vielen anderen stehe ich in der Lobby des Majestic-Hotels in Saigon und kämpfe mit der Übelkeit. Abgebrühten Kameramännern und Fotografen, erfahrenen Radio-, Zeitungs- und Fernsehkorrespondenten aus aller Welt geht es ähnlich.
Soeben wurden wir Zeuge, wie der südvietnamesische Polizeichef einen jungen Vietcong standrechtlich hinrichtete. Mitten in Saigon, direkt vor unser aller Augen, vor den laufenden Kameras und klickenden Fotoapparaten der Weltöffentlichkeit, schoss er dem Verdächtigen auf offener Straße einfach in den Kopf.
Sind wir jetzt endlich im Alltags-Krieg angekommen? Dort wo das Töten und Massakrieren so normal ist, wie das Wechseln einer Küchenrolle? Wo das Zerstören ganzer Städte wie das Ergebnis eines Fußballspiels analysiert wird? Wo verbrannte Wälder und leidende Frauen und Kinder wie langweilige Kultursendungen von abgestumpften Zuschauern einfach weggeschaltet werden?
Nein. Was wir heute erlebten wird seinen Weg um die Welt antreten und noch in Jahrzehnten ein Mahnmal sein. Es wird in jeden Winkel kriechen, von den Luxusvierteln in Los Angeles über die Fischerdörfer auf Kreta bis in die Favellas von Rio. Und dass dies passiert, dafür lieber Gott, brauchen wir dich jetzt auch nicht mehr. Bleib also ruhig dort, wo du immer warst: In der Nichtexistenz. Von wo aus du nichts, aber auch gar nichts getan hast. Hunderte, nein Tausende von Journalisten dokumentieren ab sofort Tag für Tag eindrucksvoll deine Abwesenheit.
Filmisch und fotografisch festgehalten wissen alle Menschen jetzt von Verletzung, Tod und Zerstörung anstelle von schnellem, strahlendem Sieg mit wenig Opfern und entspannt lachenden Soldaten. Jetzt wird endlich klar, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sein wird. Nicht vom Vietcong aber auch niemals von den USA. Die Gräuel des Krieges und damit das Böse sind noch immer die stärkste Kraft auf Erden. So wie seit Tausenden von Jahren schon…
Aus: Merits Geschichten / http://www.agentur-lesenundhoeren.de/ruediger-lehmann.html