Ein kleines Bild
1. April 2011 von r.lehmann
Merits Geschichten / 1924
Mit vier Jahren wurde Raymonde zur Waise, nachdem ihre Eltern mit ihrer Tante Madeleine bei einem Schiffsunglück im indischen Ozean ertrunken waren. Aufgrund eines starken Keuchhustens war sie im letzten Moment in der Obhut des Kindermädchens geblieben und damit dem Unglück entgangen. Die folgenden Jahre ihrer Kindheit sollte sie bei ihrer Tante Minou verbringen, einer kleinen stillen Frau, die Leon Bartez, dem katholischen Pfarrer der Jesusgemeinde von Sanary, den Haushalt führte. Dieser hatte rasch und ohne jeglichen offiziellen Auftrag die väterliche Erziehung Raymondes übernommen.
„Was kann einem kleinen Mädchen besseres passieren, als bei einem Diener Gottes aufzuwachsen?“ erklärte er gerne anderen seine Art der Erziehung, die überwiegend aus harter Disziplin, Gehorsam und Verzicht bestand. Ihrer Tante Minou, die von Anfang an Angst davor hatte, ein kleines Mädchen „in dieser schlimmen Zeit“, wie sie es ausdrückte, erziehen zu müssen, konnte das nur recht sein.
An den Sonntagen half Raymonde dem Pfarrer dabei, die Kirche für den Gottesdienst herzurichten. Dabei verstand Bartez keinen Spaß, denn alles was er einmal erklärte, musste für alle Zeiten verstanden worden sein. Das fiel Raymonde bei den vielen unterschiedlichen Gewändern, Scherpen und Hüten, den Kerzen, Schalen und Pokalen alles andere als leicht. Und so kam es, dass fast jeder ihrer Sonntage mit auswendig lernen, Aufschreiben von Gebeten und Gelübden sowie mit stundenlangem Schweigen ausgefüllt war. Gingen die anderen Kinder an Nachmittag an den Strand, saß Raymonde meist wie gefangen im kleinen Pfarrhaus.
Trotzdem übte die kirchliche Welt eine Faszination auf sie aus. Sie spürte, dass etwas Unsterbliches sie umgab. Etwas, das stärker war als vieles sonst auf Erden. Das sich lohnte zu hegen und zu pflegen, zu befragen und zu beachten. Je größer das Schlimme war, das sie im Leben erleiden musste, desto kräftiger und siegreicher würde das werden, was irgendwann danach kam, predigte der Pfarrer in pedantischer Regelmäßigkeit. Auch wenn Ihr Leben insgesamt keinen erfüllten Verlauf nehmen sollte, waren es dennoch bis zum bitteren Schluss genau diese bei Bartez gelernten Werte, die sie immer wieder aufrichteten. Ganz gleich welchen Mythologien, geistigen Zielen und weltlichen Verfehlungen sie sich auch zuwendete,
An einem Märztag des Jahres 1924 fand ein kleines gerahmtes Bild ihre besondere Aufmerksamkeit. Es hing direkt neben dem Beichtstuhl und zeigte eine charismatische schwarze Frau mit strahlenden Augen und schwarzen Haaren, die große goldene Kreolinen an den Ohren trug und so eigentümlich lächelte, dass ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.
„Wer ist das?“ fragte sie Bartez.
„Das ist eine Frau, die einmal zur Beichte hier war“, antwortete er.
„Wer war sie?“
„Sie sagte, dass sie aus Amerika komme und nach jemandem schauen wolle.“
„Nach wem?“
„Das hat sie nicht gesagt.“
„Was passierte mit ihr?“
„Na ja, nach ein paar Tagen kam sie zurück. Sie bedankte sich zuerst bei der heiligen Jungfrau Maria mit einem Gebet und gab mir dann ein kleines braunes Lederkuvert, zusammen mit diesem Bild hier. Das Kuvert sollte ich gut aufheben‚ im heiligen unverletzbaren Raum der Kirche, wie sie es nannte. Das Bild bat sie mich hier aufzuhängen, da es der Person, die sie offenbar hier gefunden hatte, direkt und ohne Umwege helfen würde.“
Raymonde sah, während der Pfarrer sprach, wie gebannt auf das Bild. Es war ihr sonderbar vertraut vorgekommen, so als würde sie diese Person schon lange kennen.
„Und wo ist das Lederkuvert jetzt?“ fragte sie.
„Warum interessiert dich das eigentlich?“ fragte Bartez nun leicht gereizt, da ihm die seltsame Faszination, die das Bild auf das Mädchen ausübte, plötzlich missfiel.
„Nur so“, sagte Raymonde. „Es ist ja schon irgendwie seltsam, oder?“
Auch der Priester schaute jetzt länger auf das Bild.
„Da hast du schon recht, Raymonde, aber Gottes Wege sind nun einmal von Zeit zu Zeit seltsam. Auf den ersten Blick zumindest, denn wenn du sie irgendwann verstehst, wird dir schnell bewusst, wie sinnvoll und richtig sie in Wirklichkeit doch sind. Doch nun geh wieder an die Arbeit, das hat dich alles gar nicht zu interessieren.“
Das ist mal ein interessanter Artikel, mein Dank. Muss man sich nochmal in Ruhe durchlesen. Generell finde ich die Seite leicht zugaenglich.