Keine Kinder, kein Clown…
1. März 2011 von r.lehmann
Merits Geschichten / Rosalie Marigeaux, die Tochter des Vietnamreporters Pierre Matinee, erinnert sich:
… wir wohnten mitten im Zentrum, unweit des Place d’Italie. An meinem sechsten Geburtstag saßen wir ein paar Straßen weiter bei meinem Lieblings-McDonalds, als ich meinen Vater in dem Fernsehgerät erkannte, das in der Ecke des Restaurants stand. Umgeben von bewaffneten Beduinen erzählte er etwas, was ich heute vergessen habe. Ich hörte auch gar nicht auf das, was er sagte, sondern sah nur den Mann mit den halblangen blonden Haaren, den langen Koteletten und den stahlblauen Augen, der in ein Mikrofon sprach.
„Mein Papa“ rief ich laut und sprang auf. Meine Mutter und Jacques bemerkten ihn jetzt ebenfalls, doch in diesem Moment war der Beitrag auch schon wieder zu ende. Aufgeregt sah ich meine Mutter an.
“Wow, und das an meinem Geburtstag.“
Es schien ihr nicht zu gefallen, dass alle Leute zu uns herüber sahen und sie gab mir ein Zeichen, mich wieder hinzusetzen.
„Ja, jetzt hast du ihn gesehen“, sagte sie. „Das ist ein alter Film, da warst du noch gar nicht auf der Welt.“
Auch am Nebentisch wurde Geburtstag gefeiert. Das Kind mit der Krone hatte offenbar mehrere Kinder eingeladen und auf dem Tisch herrschte ein Kunterbunt an Schachteln, Tüten, Bechern und Spielzeugen. Alle kauten zufrieden und schoben sich mit fettigen Fingern Paniertes und Gegrilltes in den Mund. Eine freundliche Angestellte brachte Eis und Kuchen und kündigte geheimnisvoll den Clown an. Auch der Vater des Geburtstagskindes war bester Laune, scherzte und verteilte Grimassen schneidend die bunten süßen Sachen.
Jacques sprach ernst mit meiner Mutter. Über Dinge, die ich nicht verstand wie Israel, Palästina, Terror und Leid, während ich Pommes kauend zum Nachbartisch schaute. Nur zu gerne hätte ich dort gesessen, Spaß gehabt und im Arm meines Vaters gelegen, der mir so über den Hinterkopf strich, wie der Mann es jetzt bei seinem Sohn tat. Bei mir war nicht mal zu erkennen, dass ich Geburtstag hatte. Keine Krone, keine anderen Kinder, kein Clown, nichts. Außer zwei genervten Erwachsenen und einem Vater, der Tausende Kilometer weit weg sein Leben mit Sultanen und reitenden Kriegern verbrachte.
Ich wünsche ich mir bis heute, es wäre anders gewesen. Zwischen ihm und meiner Mutter hätte es ja auch die große Liebe sein können. Ein wichtiger Wendepunkt in ihrer beider Leben zum Beispiel. Es hätte ein Tag sein können, an dem mein Vater sich zur Ruhe setzte, um jeden Abend bei uns zu sein. Bei mir zu sein. Vielleicht noch als Zeitungsreporter, der über die Probleme unserer großen Stadt schreiben würde, die es wahrlich genug gab und gibt. Ich habe mich oft gefragt, warum er zu Lebzeiten lieber über verletzte, traurige Kinder in Vietnam oder Afghanistan berichtete, wo es doch hier mitten in Paris so viel Armut gab. Und außerdem hätte er, wenn alles so gekommen wäre, noch am Leben sein können…
Liebe Rüdiger, ich bin ganz beeindruckt von dieser Szene. Ja, so möchte ich auch schreiben können! Und so müsste ich schreiben können, bei dem was ich mir als Botschaft vorgenommen habe. Botschaft an die Welt mit den vielen Herkulesaufgaben.
Weiter so, aber bitte doch nur ab und zu mit fettigen Fingern am PC.
Rudolf, der Clown
Ich hatte das Vergnügen, Merits Geschichten zu lesen. Ein faszinierender, packender Roman, der mich nicht mehr losliess. Schnell und atemlos, manchmal heftig schüttelnd. Szenen, die mich auch noch nach der Lektüre “besuchten”… mich durchaus auch schreckten… alles was Spannung ausmacht, hat dieses Buch.
Es ist so, wie Rüdiger Lehmann in seinem Buch “Brand Writing” wie schreibe ich mich zur Marke, schreibt: (sinngemäss) werden sie markant, beugen sie sich hinaus und sie werden herausragen aus der Masse, vielleicht auch anecken… das passt auf Merits Geschichten aus meiner Sicht.
Laura Milde