Wahrheiten des Krieges
8. März 2011 von r.lehmann
Merits Geschichten /1964. Pierre Matinees erster Aufenthalt in Vietnam
…die Landebahn bestand aus Wellblech und alle die in der Maschine saßen, wurden beim Aufsetzen trotz ihrer Gurte heftig hin und her geworfen. Die Hitze war unerträglich. Unrasierte Gesichter auf denen Schweißperlen standen, schauten angestrengt auf den von Metallstreben und Kabeln überzogenen Boden. Nur die beiden GIs, die Pierre gegenüber saßen, grinsten. „Es ist halt keine Piste von uns,” sagte einer in breitem texanisch. „Stammt noch von den Franzosen.“ Beide brachen in lautes Lachen aus. Sie wussten wohl, woher er kam und Pierre überlegte, etwas darauf zu sagen, ließ es jedoch sein. Es war sein erster Aufenthalt in Vietnam, man schrieb das Jahr 1964 und er kannte nichts und niemanden, da waren Feinde gleich am Anfang kein guter Einstieg…
…Carlos Perez, der Fotograf, starrte während des gesamten Fluges hinunter auf die grüne, von kleinen blauen Wasserstreifen durchzogene Waldfläche. Er war kein Unbekannter mehr, hatte bereits die eine oder andere Auszeichnung bekommen und Bilder in renommierten Zeitschriften, wie Time / Life und National Geographics veröffentlicht. Bei LeMonde war Henry LaRoche Pierres Mentor gewesen. Jener berühmte Reporter, der mit Hemingway reiste und im Quartier Latin mit ihm feierte, als die Deutschen endlich aus Paris verschwunden waren. Der im Korea Krieg die berühmten „Tagesberichte eines aufrichtigen Menschen“ verfasst hatte und dafür von Literaten gelobt, aber von öffentlicher Seite zerrissen wurde. Der wegen antiamerikanischer Tendenzen am Pranger stand, aber wegen seiner Wahrheit viel Zustimmung erfuhr. Und worum ging es hier? Wieder um Wahrheit? Gab es die in diesem schon so lange andauernden Konflikt überhaupt noch? Von Seiten der Franzosen jedenfalls war niemand mehr in der Lage, etwas mit dem Wort „Wahrheit“ zu unterschreiben. Würden vielleicht die Amerikaner, die hier jetzt verstärkt ihre Muskeln spielen ließen, etwas in dieser Richtung tun können? Es sah irgendwie nicht danach aus…
Pierre Matinee war mit einer eigenen Auffassung seiner künftigen Arbeit in Sachen Wahrheit nach Vietnam gekommen. Er wußte, Journalistenpreise gab es nicht für Reportagen aus der Lagerküche oder für Interviews mit verletzt zurück gekehrten Soldaten. Es wurden auch keine Bilder prämiert, die im Vordergrund die Rückseiten von schützenden Marines zeigten. Die wurden nicht mal veröffentlicht. Und wenn es irgendwo auf der Welt noch Ehrgeiz auf Leben und Tod gab, dann dort, wo der Krieg in seiner ganzen Grausamkeit eingefangen werden konnte. Schonungslos und hautnah, um ihn dann so frisch wie möglich auf die Tische der Menschen zu bringen, deren Alltagskampf sich schlimmstenfalls um einen Platz in der U-Bahn oder eine bessere Position in der Bürohierarchie drehte…
Kriegsberichterstatter sind unbewaffnet. Auch wenn es immer wieder Geschichten um Reporter gibt, die in ausweglosen Situationen eine Waffe in die Hände bekamen und entscheidende Rollen bei der Rettung ihrer eigenen Person und der sie umgebenden Soldaten spielten. Pierre hatte in Südfrankreich seinen Militärdienst abgeleistet und sehr darauf geachtet, eine solide Ausbildung zu erhalten. In Kriegen der neueren Zeit waren es die Reporter, die bei Kampfeinsätzen als letzte in Jeeps, auf LKW oder in Hubschrauber sprangen. Vom Boden aus filmten sie meist so lange es ging das Boarding der Verletzten mit hysterisch gestikulierenden und zum Einstieg auffordernden Soldaten, während feindliche Geschosse in ihrer unmittelbaren Nähe einschlugen…
Dorthin wo Pierre und Carlos jetzt auf dem Weg waren, würde kein amerikanischer Hubschrauber kommen, in den man im letzten Moment einsteigen konnte. Auch keine Kollegen von den internationalen Fernsehteams und keine Marines. Ausgestattet mit der Akkreditierung einer schwedischen Nachrichtenagentur würden sie in wenigen Stunden die Grenze zwischen Süd- und Nordvietnam überqueren. Im Schutz der Dunkelheit und ganz ohne Wissen der südvietnamesischen und der US-Behörden…