Federn und Flohmarkt
1. Mai 2011 von r.lehmann
Marseille 1956
Als Pierre 14 Jahre alt war, verkaufte Raymonde das Haus in St. Raphael um in eine kleine Wohnung nach Marseille zu ziehen. Das Geld aus dem Verkauf bekam Victor, der mit seinen Geschäften wieder einmal in Schwierigkeiten geraten war. Er hatte es jetzt näher und kam weiterhin regelmäßig zu Besuch um sich um Pierre zu kümmern. Lernte dieser bei Victor die harten männlichen Dinge, „…die unsere Welt sicherer machen“, wie dieser es ausdrückte, so lernte er bei seiner Mutter viele Dinge des Lebens, die für den aufmerksamen Jungen ebenfalls sehr interessant waren.
Raymonde befasste sich immer intensiver mit indianischen Traditionen und Gebräuchen. Auch wenn sie schon lange einen gewissen Hang dazu gehabt hatte, wurde es jetzt für alle anderen sehr auffällig. Zusätzlich zu ihren Gebeten, die sie oft vor einem kleinen Altar mit indianischen Relikten sprach, kleidete sie sich von nun an meist in indianische Gewänder, flocht ihr Haar zu Zöpfen und legte den entsprechenden Schmuck dazu an. Sie veranstaltete Räucherzeremonien, schlug eine große mit Fell bespannte Trommel und summte monotone Melodien.
An anderen Tagen war sie dann wieder die normale Südfranzösin, geschminkt und frisiert wie aus dem Modejournal, mit langer Zigarettenspitze und einem leger in der Hand gehaltenen Rotweinglas. Unvergesslich wurden für Pierre die Abende, an denen seine Mutter ihm ihre alten Schellack-Platten vorspielte. Auch wenn er mehr von Elvis Presley, Bill Hailey oder Johnny Hallyday hielt, der seit kurzem in Frankreich von sich reden machte, konnte er sich doch einer gewissen Faszination, die von den alten Platten ausging, nicht entziehen.
Titel wie „La mer“ von Charles Trenet, oder „Gigi“ von Maurice Chevallier, in ihren brüchigen, längst abgegriffenen Papphüllen mit Schwarzweißbildern, waren so etwas wie Raymondes Heiligtümer. Es gab aber auch neuere Chansons zu hören, die er aus dem Radio kannte. Besonders gefiel beiden der Gesang von Edith Piaf, mit Liedern wie „L’accordeoniste“ oder „Mylord“, aber auch die Stimmen von Yves Montand und der faszinierenden Juliette Gréco.
Wenn sie gemeinsam diesen Liedern lauschten, blätterten sie in großen Bildbänden, in denen auf stimmungsvollen Schwarzweißfotos all die Plätze und Gassen von Paris abgebildet waren, mit denen Raymonde vorgab Erinnerungen zu verbinden. Vieles hatte Raymonde einfach nur erfunden, was Pierre aber nicht störte. Obwohl sie noch nie in Paris gewesen war, verschmolzen die Faszination, die von den Bildern und Raymondes Erzählungen ausging, mit den Chansons rasch zu einem Stück gelebte Wirklichkeit.
Pierre glaubte dort zu sein, wenn Raymonde ihm Fotografien vom weltberühmten Pariser Flohmarkt zeigte und ihre Geschichten dazu erzählte. Bilder, auf denen Frauen und Männer vor riesigen Auslagen in Antiquitätenläden standen und Gläser, Figuren, Flacons, Kannen, Karaffen und Vasen begutachteten. „Hier habe ich den Leuchter gekauft, der dort steht“, sagte sie und deutete auf die Anrichte im hinteren Teil des Raumes. „Und ob du es glaubst oder nicht, das Foto hier muss kurz danach aufgenommen worden sein, denn an die meisten Stücke hier erinnere ich mich heute noch…“
Aus: Merits Geschichten / http://www.agentur-lesenundhoeren.de/ruediger-lehmann.html